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Mitteilungsblatt des Arbeitskreises

"Philosophie und Chemie"

ISSN 1433-5158
Volume 1, 1995
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Inhalt

Editorial (Über den APC)

Gründungsmitglieder und Kontaktpersonen

Bisherige Projekte des Arbeitskreises

Veranstaltungshinweise

Literaturspiegel


Redaktion und Herausgabe: Dr. Joachim Schummer, Universität Karlsruhe, Institut für Philosophie, Postfach 69 80, D-76128 Karlsruhe; Tel.: 0721 / 608-4774 oder -2149, Fax: 0721 / 608-3084

Editorial

Liebe Interessenten und Freunde des Arbeitskreises "Philosophie und Chemie",

im Vergleich zu anderen Wissenschaften ist die Chemie bisher in auffallender Weise von Philosophen geradezu ignoriert worden. Das gilt insbesondere auch für Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftsphilosophen, die sich vornehmlich mit erkenntnistheoretischen und ethischen Problemen, Grundlagenfragen, Grundbegriffsklärungen, Methoden und Entwicklungsdynamik der Wissenschaften sowie den Verhältnissen der Wissenschaften sowohl untereinander als auch zum allgemeinen sozialen Kontext beschäftigen. Gleichzeitig fällt auf, daß auch Chemiker traditionell in einem sehr distanzierten Verhältnis zu philosophischen Fragen und Theorien stehen - und dies wiederum im deutlichen Unterschied zu vielen philosophisch engagierten Physikern, Biologen, Mathematikern, Soziologen, Historikern usw.

Mit der Überzeugung, daß diese Distanz nicht in der Natur der beiden Fächer begründet liegt, sondern daß beide von einem Dialog und einer Zusammenarbeit profitieren können, haben sich im Juni 1993 philosophisch interessierte ChemikerInnen, chemisch interessierte PhilosophInnen und WissenschaftshistorikerInnen zu einem bundesweiten Arbeitskreis "Philosophie und Chemie" (APC) zusammengeschlossen. Es ist das Ziel des APCs, eine anspruchsvolle und undogmatische Auseinandersetzung mit der Chemie auf der gesamten Breite philosophischer Thematik (einschließlich philosophisch relevanter Chemiegeschichtsforschung) in Gang zu setzen, zu fördern und durch Veranstaltungen und Publikationen in die Öffentlichkeit zu tragen.

Der APC ist bisher noch informell organisiert und trifft sich in unregelmäßiger Folge etwa zwei mal pro Jahr, meist im Rahmen von Veranstaltungen zur Philosophie der Chemie, die abwechselnd von einzelnen Mitgliedern hauptverantwortlich organisiert werden (s.u.). Mittlerweile bestehen auch viele Kontakte zu ähnlich motivierten Kollegen im Ausland; der APC ist bemüht, seine Aktivitäten international auszudehnen. Zur Koordination von Informationen und Aktivitäten soll vorerst ein Mitteilungsblatt dienen, das hiermit in erster Ausgabe erscheint und sich an alle potentiellen Interessenten des APC wendet. Neben der Ankündigung von geplanten Aktivitäten und Berichten über bereits abgehaltene Veranstaltungen des APCs soll das etwa zweimal pro Jahr erscheinende Mitteilungsblatt auch über relevante aktuelle Publikationen und sonstige relevante Veranstaltungen informieren.

Durch die informelle Organisationsform steht jedem Interessenten die Teilnahme an Einzelveranstaltungen, eine regelmäßige Mitarbeit oder Projektmitgestaltung offen. Wer sich weiterhin durch dieses Mitteilungsblatt über Aktivitäten des APC kostenlos informieren lassen möchte, wird gebeten, seine Adresse an den Herausgeber (Joachim Schummer, Universität Karlsruhe, Institut für Philosophie, Postfach 69 80, 76128 Karlsruhe) mit beiliegender Antwortkarte zu schicken. Eine Weiterverbreitung des Mitteilungsblattes ist ausdrücklich erwünscht. Gleichzeitig ergeht der Aufruf, neue Publikationen zur Philosophie der Chemie sowie Veranstaltungshinweise für die nächste Ausgabe des Mitteilungsblatts zu melden; Kurzrezensionen (max 1 Seite) von Buchpublikationen sind willkommen. Interessenten für die angekündigten Einzelveranstaltungen und Treffen des APCs wenden sich bitte zur Anmeldung direkt an die jeweils genannten hauptverantwortlichen Organisatoren.

Die informelle Organisationsform bringt es mit sich, daß die Projekte des APC nur durch privates Engagement der Mitglieder und durch Spenden finanziert werden. Wir bitten daher alle Interessenten um eine freiwillige Spende auf das Projekt-Konto der Universität Karlsruhe unter Angabe folgender Daten: Baden-Württembergische Bank, Karlsruhe, Kt.-Nr. 400 20141 03, BLZ 660 200 20, Vermerk: TG 86 Inst. Philosophie. Spender erhalten eine steuerabsatzberechtigende Spendenbescheinigung und werden namentlich im nächsten Mitteilungsblatt erwähnt.

Karlsruhe im September 1995,

Joachim Schummer

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Gründungsmitglieder:

Martin Eisvogel (Konstanz), Britta Goers (Regensburg), Edzard Han (Berlin), Gerd Hanekamp (Marburg), Christoph Liegener (Erlangen), Nikos Psarros (Marburg), Frank Ruhnau (Braunschweig), Klaus Ruthenberg (Coburg), Joachim Schummer (Karlsruhe)

Als Kontaktpersonen stehen zur Verfügung:

Martin Eisvogel, Universität Konstanz, Fachgruppe Philosophie, Universitätstr. 10, Postfach 5560, 78464 Konstanz; Tel.: 0621/24075, Fax: 0621/21245, e-mail: pieisvo@nyx.uni-konstanz.de

Nikos Psarros, Universität Marburg, Lehrstuhl 1 für Philosophie, Blitzweg 16, 35032 Marburg; Tel.: 06421/14143, Fax: 06421/26209, e-mail: psarros@mailer.uni-marburg.de

Klaus Ruthenberg, Fachhochschule Coburg, Chemisches Laboratorium, Postfach 1652, 96406 Coburg; Tel.: 09561/317-155, -116, Fax: 09561/317-273, e-mail: ruthenberg@cris.fh-coburg.de

Joachim Schummer, Universität Karlsruhe, Institut für Philosophie, Postfach 6980, 76128 Karlsruhe; Tel.: 0721/608-4774, -2149, Fax: 0721/608-4290


Projekte des APC

Bisherige Aktivitäten und Projekte:

Konstituierende Sitzung des APC

in Verbindung mit einem öffentlichen Kolloquium zur Philosophie der Chemie am 19. Juni 1993 in Coburg mit folgenden Referaten:

Nikos Psarros: "Einführung in die Probleme",

Gerd Hanekamp: "Über die Möglichkeit faktischer Genesen",

Joachim Schummer: "Experimentalistische Ansätze in der Chemie",

Christoph Liegener: "Stellung der Chemie zur Physik",

Klaus Ruthenberg: "Stellung der Chemie zur Biologie".

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"Philosophie der Chemie - Bestandsaufnahme und Ausblick",

Kolloquium am 16./17. April 1994 in Karlsruhe, ermöglicht durch finanzielle Unterstützung der Firmen Merck, Bayer und Hoechst. Die Kolloquiumsbeiträge erscheinen Anfang '96 bei Königshausen & Neumann (s. u.), vermehrt um weitere Aufsätze von M. Akeroyd, E. Scerri und H. Laitko sowie einem Geleitwort von Elisabeth Ströker. Der folgende Auszug aus der Einleitung gibt einen Überblick über die Beiträge:

Mit dem Thema "Philosophie der Chemie - Bestandsaufnahme und Ausblick" hatte sich der APC zunächst selber die "Hausaufgabe" gestellt, einerseits im Rückblick auf die Philosophie diejenigen historischen Arbeiten zu sichten, an denen eine inhaltliche Auseinandersetzung anknüpfen könnte, und andererseits Themen, Problemkreise und Aufgabenbereiche für eine zukünftige philosophische Auseinandersetzung mit der Chemie anzuvisieren. Im Zuge der Vorarbeiten erschienen bald drei Modifikationen der ursprünglichen Aufgabenstellung notwendig. Erstens verlagerte sich der Schwerpunkt der Bestandsaufnahme infolge des dürftigen Materials auf die Untersuchung der Ursachen der philosophischen Vernachlässigung der Chemie. Zweitens wurden für den Ausblick Fragen der praktischen Philosophie noch weitgehend zurückgestellt, um dafür erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problemen der Chemie mehr Raum zu geben und z.T. erste konstruktive Ansätze aufzeigen zu können. Drittens schließlich haben wir uns entschlossen, unsere "Hausaufgabe" über die Grenzen des Arbeitskreises und des Landes hinaus auch an Kollegen aus dem Ausland heranzutragen, um der Studie einen dem wissenschaftlichen Anspruch gemäßen internationalen Charakter zu geben. Dafür konnten wir den Niederländer Jaap van Brakel gewinnen, der bereits vor vierzehn Jahren eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Philosophie der Chemie vorgenommen hatte, sowie die Engländer Eric Scerri und Michael Akeroyd, die sich beide seit einigen Jahren auf diesem Gebiet einen Namen gemacht haben. Schließlich hat sich dankenswerterweise Hubert Laitko bereit erklärt, unsere Bestandsaufnahme um einen historischen Beitrag zu den jahrzehntelangen Aktivitäten in der DDR zur Philosophie der Chemie aus erster Hand zu bereichern, und damit erstmalig einen Überblick über die damals in der BRD nur schwer zugänglichen Arbeiten zu liefern.

Weil die Themenstellung bewußt relativ offen gehalten und zwar Absprachen zur Vermeidung von Wiederholungen, aber keine systematischen Themenaufteilungen vorgenommen wurden, ist der Ertrag sowohl der Bestandsaufnahmen als auch der Ausblicke über Erwarten sehr perspektivenreich; infolgedessen haben wir auf eine thematische Gliederung der Beiträge verzichtet. Ohne den Anspruch der Vollständigkeit zu erheben, reicht die Bestandsaufnahme von der griechischen Stoffphilosophie bis zur Rolle der Chemie im dialektischen Materialismus und der gegenwärtigen analytischen Wissenschaftstheorie einschließlich einer kritischen Diskussion verschiedenster Thesen zu "Philosophie-unfähigkeit der Chemie". Ohne daß der Problem-horizont damit erschöpfend erfaßt wäre, finden sich in diesem Band Ausblicke und Ansätze vom Wahrheitsproblem der analytischen Chemie bis zur konstruktivistischen Entwicklung einer Protochemie, von der Anwendung des Popperschen Falsifikationismus bis zum philosophisch-chemischen Beitrag zur Ökologieproblematik, von einer kritischen Diskussion der Reduzierbarkeit der Chemie auf die Physik bis zur radikalen Frage nach dem direkten Nutzen bzw. der potentiellen "Kostenstelle" einer Philosophie der Chemie. Zur besseren Orientierung soll der folgende Überblick über die einzelnen Beiträge dienen.

Bemerkenswerterweise ist das erste überlieferte Thema der abendländischen Philosophie die naturphilosophische Frage nach dem Stoff gewesen. Davon ausgehend untersucht JOACHIM SCHUMMER im ersten Teil seines Beitrages, welche Schritte in der abendländischen Philosophiegeschichte dazu führen konnten, daß es heute keine Philosophie der Wissenschaft von den Stoffen gibt. Er konstatiert eine Verdrängung erstens der Stoffe aus der Ontologie unter der Dominanz der pythagoräisch-eleatischen "Formphilosophie", zweitens der Stofferkenntnis aus der Erkenntnistheorie unter der Dominanz der neuzeitlichen mechanistischen Philosophie und drittens der Stoffprädikate aus der Sprachphilosophie unter der Dominanz der analytischen Wissenschaftstheorie. Im ausblickenden, zweiten Teil versucht Schummer vor dem Hintergrund dieser "philosophischen Entstofflichung", sowohl die wissenschaftliche als auch die alltägliche Stofferkenntnis hinsichtlich ihrer Konsequenzen für einen unverantwortlichen Umgang mit Stoffen, der heute als wesentliche Ursache ökologischer Probleme gilt, erkenntniskritisch zu hinterfragen. In beiden Bereichen findet er verschiedene überlieferte Formen der Verdinglichung bzw. eines Essentialismus, die durch Verabsolutierung bestimmter Perspektiven sowohl sich gegenseitig als gerade auch die ökologischen Stoffeigenschaften aus den jeweiligen Stoffbegriffen ausblenden. Dagegen entwirft er das Programm einer integrativen Wissenschaft von den Stoffen und skizziert diejenigigen Aufgaben, die der Philosophie dabei zufallen.

KLAUS RUTHENBERG diskutiert zunächst kritisch verschiedene Thesen zur "Philosophieunfähigkeit" aus der Literatur. Gegen die Komplexitätsthese (die Chemie entziehe sich aufgrund ihrer Komplexität und Vielfalt einer philosophischen Betrachtung) wendet er ein, daß zunächst jeder Gegenstand komplex erscheint und daß sowohl Chemiker als auch einarbeitungswillige Philosophen zu einer philosophischen Durchdringung der Chemie fähig sein sollten. Der Reduktionismusthese (die Chemie sei durch eine philosophische Behandlung der Physik abgedeckt) hält er entgegen, daß damit - selbst wenn man dem Reduktionismus entgegen einschlägiger Literatur recht gibt - lediglich begründungstheoretische Fragen obsolet würden; andere Disziplinen wie Biologie und Psychologie weisen über die Reduktionsfrage hinaus auch eine Reihe weiterer interessanter philosophischer Probleme auf. Statt dessen entwickelt er eine Relevanzthese: Der Gegenstands- oder Gesetzesbereich der Chemie betreffe keine für die allgemeine menschliche Orientierung und Weltanschauung relevanten Fragen. Ob man eine klassische ontologische Schichtentheorie oder die evolutionäre Fulgurationstheorie von Konrad Lorenz zugrunde lege, in jedem Fall seien die traditionell philosophisch relevanten Themen über das Wesen bzw. die Entstehung von Kosmos, Leben und Seele bereits an Physik, Biologie und Psychologie vergeben.

Ausgehend von der These, daß die Chemie bisher im Unterschied zu vielen anderen Wissenschaften noch kein eigener philosophischer Forschungsgegenstand ist, fragt JAAP VAN BRAKEL vor dem Hintergrund fundierter Literaturkenntnis, welche Rolle die Chemie darüber hinaus in der Wissenschaftstheorie insbesondere der letzten 60 Jahre gespielt hat. Da in der Phase bis ca. 1960 eine deutliche Interessendominanz für Theorien bzw. mathematisch formulierbare Gesetze, für logische Strukturen und vereinheitlichende bzw. reduzierende Theorien vorlag, seien chemische Themen einfach aus Mangel an relevanten Anküpfungspunkten vernachlässigt worden, und zwar gerade weil die Chemie mit der Physik zusammen als eine "exakte Naturwissenschaft" behandelt wurde. Daß die Chemie nach 1960 eine zunehmende Berücksichtigung in Form von historischen Fallstudien erfährt, erklärt van Brakel aus der wissenschaftstheoretischen Öffnung für Fragen der Wissenschaftsgeschichte -soziologie und neuerdings der experimentellen Methode. Darüber hinaus tauchen neben verstreuten chemischen Fallbeispielen in der allgemeinen Wissenschaftstheorie und Philosophie in den letzten Jahren auch vereinzelte Arbeiten zur logischen Rekonstruktion chemischer Theorien, zu chemischen Grundbegriffen sowie zur Kritik des Reduktionsverhältnis Physik-Chemie auf, wobei gerade letztere - wie van Brakel mit Erstaunen feststellt - in den wiederbelebten Diskussion zu Reduktions- und Emergenztheorien in der allgemeinen Wissenschaftstheorie ignoriert werden.

Der Beitrag von HUBERT LAITKO gibt als Erfahrungsbericht aus erster Hand unter Mithilfe ehemaliger Fachkollegen erstmalig einen umfassenden historischen Überblick über Aktivitäten und institutionelle Entwicklungen bzgl. der Philosophie der Chemie in den letzten 30 Jahren der DDR. Laitko schildert, wie vor dem Hintergrund politischer und ideologischer Verhältnisse erste Ansätze aus dem pädagogischen Anliegen der Vermittlung dialektisch-materialistischer Grundsätze über chemischen Beispiele erwuchsen, wie dann aus der Frage nach der wissenschaftlichen Eigenständigkeit der Chemie im Verhältnis zur Quantenmechanik auch ein eigenständiger philosophischer Boden gewonnen wurde, der schließlich sowohl institutionell in Verbindung mit der Chemiegeschichte als auch inhaltlich durch zahlreiche Arbeiten zur Methodologie, zu chemischen Grundbegriffen und zur Genese und Evolution chemischer Theorien fruchtbar gemacht werden konnte. Eine umfangreiche - nach Angaben des Autors keineswegs vollständige - Liste von bislang weitgehend unbekannt gebliebenen Arbeiten dokumentiert zusätzlich die Disziplingenese, die mit der deutschen Wiedervereinigung zu einem vorläufigen Ende gelangt ist. Inwieweit damit die in diesem Band mehrfach vertretene These einer philosophischen Vernachlässigung der Chemie in ihrer Allgemeinheit unterlaufen wird, bleibt einer zukünftig zu leistenden inhaltlichen Aufarbeitung vorbehalten zu entscheiden.

Der Beitrag von ERIC SCERRI ist der Frage nach der Reduzierbarkeit der Chemie auf die Physik und dem besonderen Erklärungstypus in der Chemie gewidmet. Im Anschluß an Ernest Nagel werden verschiedene Reduktionsmodelle (strikte vs. angenäherte, homogene vs. heterogene Reduktion etc.) sowie neue Emergenz- und Supervenienztheorien hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf das Verhältnis von Physik und Chemie untersucht. Scerri gelangt zu dem Ergebnis, daß allenfalls eine angenäherte Reduktion unter Erhalt der logischen Inkompatibilität der Theorienbereiche in Betracht kommen könnte. Die implizite Reduktionsannahme vieler Wissenschaftstheoretiker und Physiker beruhe hingegen auf dem Bemühen um Einheit der Wissenschaft und der Ignoranz der entsprechenden chemischen bzw. philosophischen Probleme. Er warnt eindringlich vor den Konsequenzen, die Eigenständigkeit der Chemie aufzugeben oder chemiedidaktische Konzepte auf die Quantenmechanik zu gründen. Gegen das vorherrschende Erklärungsmodell von Carl Gustav Hempel gewendet zeigt er, daß zur Erklärung in der Chemie in erster Linie klassifikatorische Konzepte (z.B. das Periodensystem) aber auch mathematische Interpolationen verwendet werden, die sowohl zur Systematisierung des komplexen Gegenstandbereichs als auch als Voraussageinstrumente sehr erfolgreich sind, obwohl sie nicht zu erklärenden Theorien im Sinne Hempels zu rechnen seien. Die Mißachtung des chemischen Erklärungstypus sei nicht zuletzt auch für die wissenschaftstheoretische Vernachlässigung der Chemie verantwortlich.

EDZARD HAN zeigt in seinem Beitrag Grenzen und Probleme verschiedener wissenschaftstheoretischer Konzepte auf, die in jüngster Zeit insbesondere von analytischen Chemikern im Bemühen um die wissenschaftliche Eigenständigkeit ihrer (Sub)Disziplin unkritisch aufgegriffen wurden. Der leichtfertigen Rede von der Wahrheit als schlichte Übereinstimmung mit bzw. als Abbildung der Realität hält er die Interpretationsabhängigkeit jedes analytisch-chemischen Meßergebnisses sowie die Denkmöglichkeit verschiedener adäquater "Abbilder" entgegen. Nachdem die Induktion als Begründungverfahren chemischer Gesetze (hier: durch Anwendung mehrerer unabhängiger chemischer Analyseverfahren) als logisch unzureichend ausgewiesen wird, werden einschlägige Argumente gegen den Falsifikationismus auf die Chemie übertragen und die Abhängigkeit der Falsifikation vom Induktionsprinzip aufgezeigt. Poppers Fallibilitätsprinzip wird ebenso kritisiert wie die rationale Entscheidbarkeit zwischen konkurrierenden Theorien, die bei der Fülle chemischer Modelle im übrigen keine Seltenheit sind. Aus den angedeuten Problemen leitet Han schließlich die besondere Notwendigkeit einer wissenschaftstheoretischen Durchdringung der Chemie ab.

Da explizite Auseinandersetzungen mit der Chemie in der Philosophie Karl Poppers praktisch nicht zu finden sind, hat sich MICHAEL AKEROYD das Ziel gesteckt, den indirekten Beitrag Poppers für eine Philosophie der Chemie hinsichtlich der Erfassung chemischer Forschungstrategien durch dessen Methodologie zu würdigen. Dazu werden zunächst (gegen Anhänger von Kuhn und Lakatos gewendet) die Überwindung der Sauerstofftheorie von Lavoisier, der elektrochemischen Theorie von Berzelius sowie der biochemischen Nährstofftheorie durch Hopkins als strikte Falsifikationen ohne Alternativtheorien rekonstruiert. Die Strategie der ad hoc Anpassung von Theorien findet Akeroyd hingegen nur in einigen weniger bedeutsamen Fällen aus der Biochemie. Als Beispiel für die Anwendung des hypothetisch-deduktiven Verfahrens in der Chemie wird Daltons Formulierung des Gesetzes der konstanten Proportionen (gegen die Anhänger der induktiven Methode) angeführt. Schließlich hebt Akeroyd noch den strikten Antireduktionismus des späten Popper hervor, welcher sowohl der Chemie als auch der Biochemie einen eigenständigen Status zugesprochen habe.

Losgelöst von den Selbstverständlichkeiten und gefälligkeiten altetablierter Traditionen kann und muß sich die Begründung neuer Forschungsrichtungen auch radikalen und unbequemen Fragen stellen. Wer trägt den direkten Nutzen einer Philosophie der Chemie, fragt MARTIN EISVOGEL; ist die "Kostenstelle" eher bei der Chemie oder bei der Philosophie zu suchen? Eine historische Betrachtung der "chemischen Revolution" führt ihn zu dem skeptischen Ergebnis, daß methodologische Vorschriften "für die bessere Wissenschaft" keinen direkten Gewinn und eine Grundbegriffsklärung nur in besonderen Krisensituationen einen Nutzen für wissenschaftlich-technische Problemlösungen bieten können. Die Behandlung ethischer Fragen der Chemie erfordere hingegen keine philosophische Spezialdisziplin und würde eher der gesamten Gesellschaft als einer speziellen Wisenschaft dienen, sie könnte u.U. sogar deren ungehemmte Aktivitäten bremsen. Philosophische Beschäftigungen könnten jedoch indirekt zum Nutzen der Chemiker gereichen, etwa bei der Schärfung des Problembewußtseins oder des Selbstverständnisses. Einen direkten Nutzen sieht Eisvogel hingegen eindeutig auf der Seite der Philosophie, die einerseits von der methodischen Normalität und andererseit von dem besonderen Naturverständnis der Chemie lernen könnte.

Gegen die These der "Philosophieunfähigkeit" der Chemie gewendet führt NIKOS PSARROS an, daß diese These selber wissenschaftstheoretisch - mithin philosophisch - sei, daß Chemiker wissenschaftstheoretische Begriffe verwenden, daß die Chemie einer rationalen Durchdringung fähig und zu ihrer Legitimation auch bedürftig sei und daß dem weder die technisch-praktische Ausrichtung noch der vermeintliche Mangel an Grundlagenkrisen entgegenstehe. In deutlicher Abgrenzung zur empiristischen Tradition der analytischen Wissenschaftstheorie entwirft er schließlich aus einem methodisch-konstruktivistischen Wissenschaftsverständnis eine Protochemie. Ausgehend von lebensweltlich verankerten handwerklichen Praxen der Stoffveränderung, deren Zwecken und vorwissenschaftlich-technischem Wissensbeständen zur Herstellung und Verarbeitung von Werk-, Wirk- und Brennstoffen werden zentrale Grundbegriffe und -verfahren der Chemie entwickelt. Die Anwendung des wissenschaftstheoretischen Verfahrens der "methodischen Rekonstruktion" dient dabei einerseits einer zirkelfreien Begriffsentwicklung und andererseits einer Übertragung der lebensweltlich verankerten Zwecke auf ein protowissenschaftliches Normensystem. Als Grundlage der empirischen Wissenschaft Chemie soll die Protochemie dieser sowohl eine begriffliche Klarheit als auch eine gesellschaftliche Legitimation garantieren.

Joachim Schummer

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"Chemistry and Reduction"

Internationaler Workshop,15.-17. Juni 1995 in Konstanz. Die Herausgabe einer englisch-sprachigen Publikation der Beiträge ist von Martin Eisvogel geplant.

An der Universität Konstanz fand vom 15. bis 17. Juni 1995 ein Workshop mit dem Titel "Chemistry and Reduction" statt. Mit dieser Veranstaltung versuchten MARTIN EISVOGEL und Prof. PAUL HOYNINGEN-HUENE, die in anderen Bereichen der Philosophie und Wissenschaftstheorie entwickelte Debatte über Theoriereduktion für die Philosophie der Chemie fruchtbar zu machen.

Dazu wurde eine Reihe kurzer Referate vorgetragen. Zwischen den Referaten gab es ausreichend Zeit für Diskussionen. Die Vorträge sollten fließend von den allgemeinen Grundlagen über eine Rekonstruktion der Diskussion in der Physik zu den speziellen Problemen der Theoriereduktion in der Chemie führen.

Nach einem einführenden Referat von PAUL HOYNINGEN-HUENE, in dem die verschiedenen Verwendungen des Begriffs "Reduktion" untersucht wurden, folgte ein historischer Überblick von ACHIM STEPHAN, Mannheim. Danach fragte der Marburger Philosoph PETER JANICH nach der Rationalität der Handlung "Reduzieren". Der Züricher Chemiker HANS PRIMAS untersuchte einige Fragen zu Theoriereduktion und Emergenz. ERIC SCERRI aus London stellte sein Konzept "quantitative reduction" vor.

Nach diesen grundlegenden Beiträgen sollte die Frage behandelt werden, inwieweit die bereits geleistete Diskussion auf die Chemie übertragbar ist. Dazu untersuchte zuerst STEPHAN HARTMANN aus Konstanz, ob Teilchenphysik automatisch reduktionistische Ansätze beinhaltet. VALERIA MOSINI aus Rom fragte, ob die These von der Einheit der Wissenschaften unbedingt Reduzierbarkeit der chemischen Theorien auf physikalische impliziert. THEO LEIBER, Augsburg, untersuchte, ob Eigenschaften des deterministischen Chaos die Reduzierbarkeit limitieren. Der Neapolitanische Chemiker GUISEPPE DEL RE sah die Chemie als Wissenschaft der Komplexität. REINER HEDRICH, Giessen, betrachtete die "Strukturale Irreduzibilität bei komplexen Systemen".

Nach diesen Arbeiten fragte NIKOS PSARROS, Marburg, wieviel Physik denn eigentlich der Chemiker braucht, um arbeiten zu können. KLAUS RUTHENBERG aus Coburg betrachtete die Reduzierbarkeit der Chemie vor der Folie der Heisenbergschen Idee der abgeschlossenen Theorien. MARTIN EISVOGEL, Konstanz, versuchte in seinem Referat, das Wesentliche der chemischen Theoriestruktur im Unterschied zu physikalischen Theorien zu fassen, um vielleicht von dieser Seite die Reduktionismusdebatte durchsichtiger zu machen. JOACHIM SCHUMMER aus Karlsruhe versuchte, den irreduziblen Kern der Chemie auf experimenteller und theoretischer Ebene ausfindig zu machen.

Am Ende deutete Marcel Weber vom Biozentrum Basel noch auf einige Probleme in einer Nachbardisziplin der Chemie, der Biologie.

Zuletzt folgte eine Diskussion über die gesamte Tagung, die von PAUL HOYNINGEN-HUENE moderiert wurde. Hier wurde versucht, Richtungen aufzuzeigen, in die die zukünftige Reduktionismusdiskussion in der Chemie laufen kann.

Die Konferenzsprache war Englisch, der Workshop wurde durch die Unterstützung des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft und der Volkswagenstiftung ermöglicht.

Martin Eisvogel

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Weitere Veranstaltungen des APC:

- Autorentreffen "Philosophen und Chemie", 24. November 1995 in Berlin, Humboldt-Universität. Im Rahmen des bereits länger geplanten gleichnamigen Buchprojekts werden wichtige historische Philosophen hinsichtlich ihres Einflusses auf und durch die Chemie ihrer Zeit untersucht (Aristoteles, Platon, Hermetik, Paracelsus, Bacon, Newton, Condillac, Kant, Hegel, Schelling, Schopenhauer, Engels, Peirce, Ostwald, Cassirer, Meyerson, Bachelard) Die Ergebnisse sollen durch Kurzreferate der einzelnen Autoren vorgestellt werden. Hauptverantwortlicher Organisator: Nikos Psarros (Adresse s.o.).

- Diskussionrunde "Perspektiven der Philosophie der Chemie", 25. November 1995 in Berlin, Humboldt-Universität. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern ist eine öffentliche Diskussionsrunde über Stand, Aufgaben und Perspektiven der Philosophie der Chemie geplant. Begleitend findet das nächste Treffen des APC statt. Hauptverantwortlicher Organisator: Nikos Psarros (Adresse s.o.).

- "Conference on Philosophy of Chemistry and Biochemistry and Adjacent Historical Problems", 4.-7. April 1996 in Athen, in Zusammenarbeit mit dem Department of History and Philosophy of Science der Universität Athen. CALL FOR PAPERS! Begleitend findet das übernächste Treffen des APC statt. Hauptverantwortlicher Organisator des APC: Nikos Psarros (Adresse s.o.).

- Voraussichtlich ab 1996 ist die Herausgabe einer Zeitschrift zur Philosophie der Chemie von Klaus Ruthenberg geplant.

Sonstige Veranstaltungen:

- 3. Erlenmeyer-Kolloquium zur Philosophie der Chemie mit dem Thema "Die Eigenständigkeit der Chemie im Verhältnis zu ihren Nachbarwissenschaften", 2. Februarhälfte 1996 in Marburg. Veranstalter: Prof. Dr. Peter Janich, Lehrstuhl 1 für Philosophie, Universität Marburg, Blitzweg 16, 35032 Marburg.

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Literaturspiegel

Bibliographien:

van Brakel, J., Vermeeren, H.: "On the Philosophy of Chemistry", Philosophy Research Archives, 7 (1981), 501-552.

Ditthus, S., Mayer, M.: "Bibliographie Chemie und Geisteswissenschaften", in: Mittelstraß/Stock 1992, S. 217-333.

Relevante Buchpublikationen der letzten 3 Jahre:

Mittelstraß, J., Stock G. (Hg.), Chemie und Geisteswissenschaften. Versuch einer Annäherung, Berlin (Akademie) 1992.

Brock, W.H., The Fontana History of Chemistry, London (Fontana Press) 1992.

Nye, M.J., From Chemical Philosophy to Theoretical Chemistry. Dynamics of Matter and Dynamics of Disciplines 1800-1950, Berkeley/Los Angeles/London (University of California Press) 1993.

Laszlo, P., La parole des choses ou le language de la chimie, Paris (Hermann) 1993.

Janich, P. (Hg.), Philosophische Perspektiven der Chemie, Mannheim (BI) 1994.

Anfang '96 erscheinen von Mitgliedern des APC:

Psarros, N., Ruthenberg, K., Schummer, J. (Hg.), Philosophie der Chemie - Bestandsaufnahme und Ausblick, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1996.

Schummer, J., Realismus und Chemie. Philosophische Untersuchungen der Wissenschaft von den Stoffen, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1996.

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